Ihre Mama, Anke Buß, sei häufiger im Krankenhaus gewesen, erinnert sich Nina Buß. Dann hätte sie ihre Tasche gepackt und sei nach ungefähr zwei Wochen wieder nach Hause gekommen. Als plötzlich die Nachricht kam, dass sie während einem ihrer Aufenthalte an Organversagen gestorben ist, sei das ein großer Schock gewesen, erzählt die 13-Jährige. Das war im Jahr 2018 – damals war Nina acht Jahre alt. Sie sei schlagartig sehr traurig gewesen, erinnert sich die Schülerin an ihr Gefühl direkt nach der schlimmen Nachricht.
Auch für ihren Papa Carsten Schiwy war der Tod seiner Frau ein schwerer Schicksalsschlag. „Das war meine bessere Hälfte. Nachdem sie nicht mehr da war, war alles anders“, erzählt er. Der Vermögensberater war 2018 gerade dabei, sich in seinem Beruf selbstständig zu machen. Sein Arbeitgeber habe ihn zuvor vor vollendete Tatsachen gestellt – entweder der Schritt in die Selbstständigkeit oder ein Ende der Zusammenarbeit. Auf einmal stand er dann mit Nina alleine da. „Meine Frau hat den Haushalt geschmissen. Ich wusste vorher nicht mal, wie man kocht, geschweige denn die Waschmaschine bedient.“ Obwohl Freunde und Verwandte eingesprungen seien, um die Lage wie ein Fallnetz aufzufangen, sei die Folgezeit für den 54- Jährigen sehr stressig gewesen. „Zeit zu trauern hatte ich im Anschluss gar nicht. Ich musste das Begräbnis organisieren, lernen den Part meiner Frau in unserer Familie zu übernehmen und arbeiten.“
Für ihn sei aber auch klar gewesen, dass seine Tochter Unterstützung beim Trauern bekommen soll. Auf den Therapieplatz bei der Kinder- und Jugendpsychologin
musste Nina jedoch anderthalb Jahre warten. Papa Carsten hatte aber noch eine Idee: „In der Zeitung hatte ich von dem Angebot von Anna Pein für Kinder in der
Trauerphase gelesen“, erzählt er. Dabei handelt es sich um die „Hilfe für verletzte Kinder-Seelen GmbH“ aus Recklinghausen. Der Verein möchte trauernde Kinder und ihre Angehörigen nach dem Tod eines lieben Menschen begleiten und ihnen helfen, das Erlebte zu verarbeiten.
Und lieb, das war Anke Buß. „Fürsorglich, jemand, dem man vertrauen konnte“, so beschreibt Nina sie und zeigt ein herzerweichendes Bild aus einem gemeinsamen
Türkeiurlaub, auf dem sie und ihre Mutter sich küssen. Um Nina dabei zu helfen, das, was da auf einmal für sie weggebrochen war, aufzufangen, meldete Papa Carsten sie bei der Trauergruppe von Anna Pein an. „Das, was wir machen, ist keine Therapie“, erklärt die Fachberaterin für Traumatologie. Alle zwei Wochen treffen sich in ihren Räumlichkeiten rund 30 Kinder, die alle jemanden verloren haben. „Die Erfahrung unter Menschen zu sein, die eine ähnliche Erfahrung gemacht haben, das ist bereits sehr hilfreich“, so Pein.
Zweimal pro Sitzung würde das Erlebte planmäßig thematisiert. „Wir haben eine Begrüßungs- und eine Abschlussrunde, bei der eine Klangschale herumgeht. Jeder
sagt einmal seinen Namen und wen er oder sie verloren hat.“ Das können Elternteile aber auch Großeltern oder Freunde sein. Ansonsten bestünde das Angebot vor allem aus gemeinsamen Unternehmungen. Ein Kletterparkbesuch oder einen Aufenthalt auf dem Hof Fischer sind Nina besonders im Gedächtnis geblieben. Hier konnte sie Alpakas streicheln und auf dem Tracker mitfahren.
„Kinder haben einen anderen Zugang zu dem Verlust eines nahestehenden Menschen und verarbeiten vieles unterbewusst“, so Pein. Man müsse das Erlebte, wie in
Therapiesitzungen mit erwachsenen Menschen üblich, nicht immer direkt thematisieren. Einzelgespräche gebe es bei Bedarf trotzdem. Wichtig sei vor allem, dass der Verlust nicht totgeschwiegen würde. „Verdrängte Trauer macht krank“, sagt die Trauerbegleiterin. Sie sei auch heute noch manchmal traurig, weil ihr ihre Mutter fehlt, berichtet Nina. „Die Trauer kommt in Wellen“, meint Pein. „Wir geben den Kindern etwas an die Hand, das sie machen können, wenn die Gefühle hochkommen.“ Diese Strategien reichen von Ablenkungen wie Lesen oder Musik hören zu einer bewussten Auseinandersetzung mit dem Tod der geliebten Person. „Man kann zum Beispiel einen Stein bemalen und zum Friedhof bringen“, meint Anna Pein. In den Garten hinter ihrem Haus haben Nina und Carsten außerdem einen Apfelbaum zur Erinnerung an Anke Buß gepflanzt.
Generell würden Tochter und Vater sich regelmäßig erinnern. „Wir haben einen Mini-Altar, auf dem wir häufiger mal eine Kerze anzünden und an Ankes Geburtstag
fahren wir zum Friedhof und bringen einen Strauß Blumen vorbei“, erzählt Carsten Schiwy. In diesen Situationen hätten sie sich ja auch gegenseitig. Wie in der Trauergruppe von Anna Pein sind sie zwei Menschen, die eine schmerzliche Erfahrung teilen. „Wenn es mal schwieriger ist, dann rücken wir enger zusammen und kuscheln beispielsweise“, meint Papa Carsten. Irgendwann sei trotzdem wieder so etwas wie Alltag eingetreten, anders als vorher, aber fest durchgeplant – auch für Nina. „Irgendwann ist unsere Hilfe nicht mehr nötig. Die Kinder entscheiden selbst, wie lange sie in der Trauergruppe bleiben wollen“, meint Anna Pein. Bei Nina
war es im Sommer 2021 nach drei Jahren so weit und sie löste sich von der Gruppe.
Die regelmäßigen Termine bei Anna Pein haben ihr sehr geholfen, erzählt sie. Auch ihr Vater meint, dass die Unterstützung durch die Recklinghäuserin mit Geld nicht aufzuwiegen sei. Heute besucht Nina die achte Klasse und geht gerne Schwimmen. Sie taucht gerne – 50 Meter weit sei sie bereits gekommen, erzählt sie. Sie habe viel Kontakt zu ihren Großeltern und ihr Patenonkel komme oft vorbei, um gemeinsam Fußball zu schauen. So sei das, selbst nach einem so einschneidenden
Erlebnis – irgendwann kehre wieder Ruhe ein, meint Anna Pein. Dann entstehe wieder Platz für Neues.