Es gibt Muttertag, Vatertag und den internationalen „Tag der Geschwister“. Die Amerikanerin Claudia Evart hat ihn 1997 ins Leben gerufen, um an die besondere Beziehung zwischen Geschwistern zu erinnern. Ihr Bruder Alan und ihre Schwester Lisette sind bei Autounfällen ums Leben gekommen. Der 10. April war Lisettes Geburtstag.

In Recklinghausen leben zwei Jugendliche, die den Schmerz und die Trauer von Claudia Evart nachempfinden: Julien und Niklas. Ihre Brüder sind ebenfalls gestorben. Der Tod gehört seitdem zum Leben der beiden 14-Jährigen.

Julien und Niklas wären sich wahrscheinlich nie begegnet, der Verlust hat sie zusammengeführt. Beide verarbeiten seit einigen Monaten mit dem Verein „Hilfe für verletzte Kinderseelen“ ihre Trauer, finden in den Räumen  an der Hochstraße Ablenkung in Gruppenstunden, können auch mit der Vorsitzenden und Trauerbegleiterin Anna Pein über ihre Gedanken reden. Sie hat uns den Kontakt zu Julien und Niklas vermittelt.

Julien kennt Marvin nur noch von Bildern Julien war neun Monate alt, als Marvin bei einem Unfall starb. Er kennt nur Bilder, auf denen der damals Sechsjährige ihn als Säugling im Arm hat und füttert. Dass die Trauer ihn so lange nach dessen Tod mit Wucht einholen würde, damit hatte Julien nicht gerechnet: „Ich hatte einen ständig wiederkehrenden Alptraum. Marvin hat mir Vorwürfe gemacht, dass ich unsere Mutter
enttäusche.“

Anna Pein hört zu und nickt. „Julien wurde damals zum Mittagsschlaf hingelegt, wachte bei Fremden auf. In seinem Unterbewusstsein sind all die
schrecklichen Ereignisse gespeichert, die er als Baby wahrgenommen hat“, erklärt die Fachberaterin für Psychotraumatologie, „das kann nach vielen Jahren wieder hochkommen.“

Julien wurde selbst großer Bruder, seine Geschwister sind zehn und dreieinhalb Jahre alt. Dass ihre Mutter viel Angst um ihre Kinder hat, versteht der 14-Jährige. Er versucht, sie ihr zu nehmen: „Aber manchmal denke ich mir nichts dabei, wenn ich zu spät komme.“ Marvins Geburtstag und Todestag seien bis heute schlimm. Am Grab des Bruders war Julien zuletzt vor drei Jahren – nicht nur, weil es in Duisburg ist und die Familie jetzt in Recklinghausen lebt. „Ich mag dort nicht sein“, gesteht er. Nun ist es Niklas, der zustimmend nickt. Sein Bruder Tyler ist im vergangenen Juli an Krebs  gestorben. Zum Friedhof mag er auch nicht gehen: „Da habe ich die Erinnerung, wie er begraben wurde“, sagt er: „Ich will aber an den lachenden Tyler denken.“

Denn der Bruder war der Sonnenschein der Familie. „Ich habe mich so gefreut, als meine Mutter schwanger wurde. Als ich Tyler zum ersten Mal gesehen habe, hatte er sofort einen Platz in meinem Herzen.“ Mehr als zehn Jahre war Niklas Einzelkind, Eifersucht hat er keine Sekunde verspürt. Und auch, als Tyler seine Kräfte ausprobiert und ihm beim Herumalbern mal einen ordentlichen Schlag verpasst hat, wurde Niklas nur kurz sauer. „Er hat dann laut gelacht“, sagt er: „Wir hatten immer Spaß.“

„Tyler war doch eine so liebe Seele“ Dass sein kleiner Bruder keine drei Jahre alt geworden ist, empfindet Niklas als zutiefst  ngerecht:  Das ist Scheiße“, sagt er unumwunden: „Tyler war doch eine so liebe Seele.“ Selbst, als der Junge im Krankenhaus war und Niklas wegen Corona nicht zu ihm durfte: „Wir haben uns nur per Videoanruf gesehen. Er hat dann immer den Bildschirm geküsst.“ In diesen schweren Monaten des Hoffens, Bangens und schließlich des bewussten Abschiednehmens war Niklas viel allein. Der Stiefvater war zwar zu Hause, wenn die Mutter bei Tyler in der Klinik  eblieben ist, aber dennoch musste jeder für sich mit der Situation klarkommen. Ob er sich da vernachlässigt gefühlt habe? Niklas schüttelt energisch den Kopf:  Tyler hatte Vorrang. Meine Mutter hat mich immer einbezogen.“ Als Tyler zu Hause gestorben ist, war Niklas bei seinem leiblichen Vater. Das sei auch gut so  ewesen, betont er. Bald geht Niklas zur Konfirmation. Das ist ihm wichtig – obwohl Tylers Tod ihm den Glauben genommen hat. Das kann Julien gut  achfühlen: „Seitdem mein Uropa vor zwei Jahren gestorben ist, glaube ich auch nicht mehr an Gott.“ Dass ihm nach Marvin auch dieser Mensch genommen wurde, hat Julien erschüttert. Was genau vermisst er an Marvin, den er nie richtig kennengelernt hat? „Ich hätte einen erwachsenen Bruder, er würde mir viel beibringen können“, antwortet er. „Jetzt bin ich der Älteste.“ Niklas bedauert es, wieder Einzelkind zu sein: „Tyler wollte alles, was ich hatte.“ Dass er es nicht mehr mit ihm teilen kann, fehlt ihm.

Anna Pein weiß aus eigener Erfahrung, wie sich Trauer für Kinder anfühlt. Darum hat sie den Verein gegründet. Julien war  erst skeptisch, als seine Mutter ihn wegen der Alpträume bei der„Hilfe für verletzte Kinderseelen“ anmeldete. „Aber hier sind Leute, die auch jemanden verloren  haben. Wenn ich Niklas sehe, spüre ich eine Verbundenheit“, sagt er nun. Und die Träume haben aufgehört. Dabei sind die Treffen nicht traurig, es  geht nicht nur um Tod. Nach dem Begrüßungsritual mit Kerzen wird gespielt, gekickert, gealbert… „Es gibt ein abwechslungsreiches Programm“, lobt Niklas.  Anna Pein lächelt und verrät: „Bald machen wir eine Alpaka- Wanderung.“ Julien muss grinsen: „Meine Freunde sagen, ich sehe aus wie ein Alpaka.“ Niklas mustert die Locken seines Kumpels, schmunzelt und stellt fest: „Stimmt!“